"Shutdown-Programm" – ein Statement von Hans D. Christ, Württembergischer Kunstverein
Am 13. März 2020 mussten wir unsere nur kurz zuvor eröffnete Ausstellung „Actually, the Dead Are Not Dead. Politiken des Lebens“ aufgrund der SARS-CoV-2-Pandemie und der dadurch verursachten Krise des öffentlichen Gesundheitswesens schließen. Am selben Tag ist „Alexander Kluge. Oper: Der Tempel der Ernsthaftigkeit“ gar nicht erst eröffnet worden, denn nur wenige Stunden zuvor wurde der Shutdown verhängt, und im schlimmsten Fall werden wir diese Phantomausstellung nie der Öffentlichkeit zugänglich machen können.
In diesen Tagen der zigtausenden Absagen, Schließungen und Verschiebungen im Kunstbetrieb, die vor allem das Gros der Künstler*innen und Freiberufler*innen mit aller Härte treffen, zeigen sich die prekären Verhältnisse, auf denen dieser Betrieb seit Jahrzehnten aufruht, in aller Drastik. Es sind ausgerechnet die Künstler*innen, die hier in der Regel am stärksten ausgebeutet werden und kaum finanziell abgesichert sind. Die Hilfspakete, die in den letzten Wochen verabschiedet wurden, sind richtig und wichtig, doch sie offenbaren nichts anderes als die Fehler des Systems – und sie werden früher oder später die Blaupause dafür abbilden, einschneidende Kürzungen im öffentlichen Kunstsektor, der längst an den existenziellen Limits arbeitet, als alternativlos zu verkünden. Am Ende werden es die Künstler*innen und Freiberufler*innen doppelt bezahlen, denn an ihnen wird immer zuerst gespart.
Die Erfahrungen in der jetzigen Krise müssen vielmehr dazu führen, die Kunst- und Kulturförderung völlig neu zu denken und aufzustellen, anstatt den ausgehungerten öffentlichen Institutionen, wie zu befürchten ist, eine weitere Diät zu verabreichen und sie damit in eine noch stärkere Abhängigkeit von Besucher*innenzahlen zu drängen. Diese Abhängigkeit, deren Auswüchse schon vor Corona jeglichem ernstgemeinten Vermittlungsauftrag zuwiderliefen, erweist sich nun als Achillessehne des Systems.
Vielleicht haben Massenveranstaltungen physischer Art als Gradmesser einer gelungenen Kulturarbeit ja demnächst ausgedient. Doch im schlimmsten Falle bedeutet das nur, dass sich die längst in Position gebrachte Herrschaft der Klickzahlen nun endgültig durchsetzt. Die Euphorie, mit der auch Kunstinstitutionen derzeit die Virtualisierbarkeit ihrer Programme anpreisen, kann schnell nach hinten losgehen in einer Welt, in der immaterielle Verbreitungslizenzen längst eine nicht mehr durch „Füße“ einholbare ökonomische Größenordnung darstellen.
Wir werden die Strukturen des Kunstbetriebs gänzlich neu verhandeln müssen. Dabei kann es nicht darum gehen, den Status Quo zu erhalten, sondern vielmehr, die Bedingungen, Aufgaben und Ziele neu zu justieren. So müssen auf kulturpolitischer Ebene endlich die Grundlagen verbindlicher und angemessener Honorare für Künstler*innen, ebenso wie für freiberufliche Kurator*innen, Vermittler*innen, Grafiker*innen, technische Teams, Assistent*innen, Autor*innen, Übersetzer*innen, Restaurator*innen, wissenschaftliche Mitarbeiter*innen, Praktikant*innen und nicht zuletzt für die mittlerweile meist als Leiharbeiter*innen beschäftigten Sicherheits- und Reinigungskräfte geschaffen werden. Wir brauchen institutionelle Förderungen, die nachhaltig und zukunftsfähig für faire Arbeitsverhältnisse im Kunstbetrieb sorgen. Zugleich gilt es, die seit Jahren forcierte Transformation öffentlicher Institutionen nach dem Modell gewinnorientierter Unternehmen aufzukündigen, ebenso wie das damit einhergehende Credo „Mehr ist Mehr“. Wir sollten die Zeit des Stillstands dazu nutzen, zu diskutieren, was die Funktionen von öffentlichen Kunstinstitutionen angesichts von Klimakrise, sozialer Ungleichgewichte, digitaler Überwachung, wachsendem Nationalismus und Rechtsradikalismus und anderer untragbarer Verhältnisse sein können.
Die jetzige Situation zeigt jedenfalls mit aller Deutlichkeit, dass es nicht so weitergehen kann wie bisher: nicht im Kunstbetrieb, nicht im öffentlichen Gesundheitswesen, nicht im Pflegesektor, nicht in der Klimapolitik, nicht in der Lebensmittelindustrie – und nicht im Hinblick auf all diejenigen, deren Leben und Tod in der Arithmetik neoliberaler Ökonomien nicht zählen wie Geflüchtete, Wohnungslose, moderne Arbeitssklav*innen, funktional und neuronal diverse Menschen, ethnische Minderheiten … all diejenigen also, die aus der derzeitigen Führsorge- und Solidaritätslyrik herausfallen. Für die anstehenden Debatten wird es auschlaggebend sein, die notwendigen Veränderungen in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen gemeinsam zu denken, zu gestalten und politisch einzufordern, statt den einen Bereich gegen den anderen auszuspielen. (1)
Zukunft wird derzeit, so scheint es, auf politischer Ebene nahezu ausschließlich von Virologen und Politkern verhandelt und entschieden – tatsächlich sind unter diesen kaum Frauen. Soziolog*innen, Philosoph*innen oder gar Künstler*innen kommen hier nicht zu Wort, als hätte man sie als gesellschaftsrelevante Stimmen bereits abgeschrieben. Konjunktur haben weiße Männer, die sich als Macher, Heroen oder Kriegsführer inszenieren und vorrangig nationale Interessen verfolgen. Sollten wir nicht gerade jetzt vielmehr von der Verletzlichkeit und Verwundbarkeit des Lebens her denken?
Wir möchten die Zeit des Shutdowns – und darüber hinaus – dazu nutzen, auf verschiedenen Ebenen zu reflektieren, wie viele der Konflikte, die Künstler*innen, Theoretiker*innen und Aktivist*innen seit Jahren beschäftigen, in diesen Tagen nicht nur in aller Deutlichkeit zu Tage treten, sondern sich auch potenzieren. Zugleich erleben wir Dinge, die unseren bisherigen Erfahrungshorizont übersteigen und deren Auswirkungen wir uns nicht annährend vorstellen können. Was bedeutet das alles für die Gestaltung einer Zukunft, von der wir längst wussten, dass es darin kein „weiter wie bisher“ geben kann? Wir befinden uns weltweit im Modus eines gewaltigen sozialen Experiments. Es liegt auch in der Verantwortung der Kunst und Kultur, die Auswertungen und Schlussfolgerungen dieses Experiments einem pluralen, Differenz einschließenden gesellschaftlichen Korrektiv zu unterziehen.
Mit unserem Shutdown-Programm möchten wir eine offene und öffentliche Debatte über die genannten und weitere Aspekte anstoßen. Das nach und nach entstehende Programm umfasst Kommentare, Gespräche und Neubetrachtungen zu den Themen, Fragen und Werken unserer derzeitig geschlossenen Ausstellungen. Darüber hinaus soll es Beiträge zu und aus weiteren Kontexten geben, für die wir verschiedene Autor*innen einladen. Ein dritter Strang besteht in einer ständig wachsenden Sammlung von Links zu neuen und bestehenden, im Internet frei zugänglichen Texten und Werken, die uns für die anstehenden Debatten relevant erscheinen.
Da wir mit dem Shutdown-Programm eine langfristige Auseinandersetzung zu Fragen der Neugestaltung von Zukunft anstreben, beschränkt es sich nicht auf die Zeit der faktischen Schließung des WKV und wird über kurz oder lang mit oder ohne Masken und Mindestabstand auch im realen physischen Raum stattfinden. Insbesondere Letzteres können wie kaum erwarten.
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(1) Auf Druck der französischen Gewerkschaft SUD hat ein Gericht in Nanterre kürzlich den Konzern Amazon dazu aufgefordert, nur noch „wesentliche“ Artikel zu vertreiben: Lebensmittel oder Produkte zur Hygiene und Reinigung. Bücher gehören nach Ansicht dieser Gewerkschaft nicht dazu. (siehe: https://taz.de/Nach-Urteil-in-Frankreich/!5679228). An diesem Beispiel zeigt sich, wie der berechtigte Kampf gegen die ausbeuterischen Personalpolitiken eines Großkonzerns, wenn er zu eindimensional gedacht wird, die Relevanz von Kultur unterschlägt.
Siehe auch: https://www.wkv-stuttgart.de/programm/2020/shutdown-programm/
und Diskurse/Links: https://www.wkv-stuttgart.de/programm/2020/shutdown-programm/diskurs-links/